Wie-d...erholung

Publié le par rose

 

Engel in allen Variationen, Fortsetzung folgt

 

Gestern, oder war es vorgestern? habe ich ihn gesehen. Echt wahr. Es handelte sich um einen Engel. Ich habe ihn nicht an den Flügeln erkannt. Er hatte keine. Er war hinter mir. Es muss ein Schutzengel gewesen sein. Bei Engeln bin ich misstrauisch. Man weiß nie, was einen erwartet. Der Würgeengel von Walter Benjamin ist mir in bleibender Erinnerung, wie er auf das Schlachtfeld der Geschichte blickt. Meine Zukunft. Mein Gott, wollte ich sagen, aber das Wort geht mir nicht leicht über die Lippen. Engel sind da nicht wirklich einfacher. Gehören sie doch zur gleichen Sippe, aber immerhin kommen sie öfter zu Besuch. So eben auch kürzlich zu mir. Ich kann den Tag nicht mehr genau rekonstruieren, weil ich Zeit verloren habe. Ich bin einerseits froh, dass ich sie los bin, aber manchmal fehlt sie mir dann doch. Wenn ich nämlich rekonstruieren könnte, wann er genau erschienen ist, könnte ich meine Erwartung auf einen ähnlichen Zeitpunkt richten. Ich würde ihn gerne wieder sehen, um ein paar Fragen zu stellen. Ob man Engel berühren kann?

 

Also, ich fange besser vorne an. Ich war nämlich gerade vollen Mundes und mit der Wort suche beschäftigt, da kribbelt es mir in der Wirbelsäule während ich mich von den Kuchenresten befreie. Ich brauche ab und zu eine Befreiung. Ich lasse mich sonst zu schnell von den Pflichten des Alltags fangen. Oder genauer gesagt, von der Routine. Diese ständig gleiche Wiederholung, die uns daran hindert verrückt zu werden. Ich glaube, wenn ich jeden Tag neu erfinden müsste, wäre ich schon lange in der Psychiatrie gelandet. Ich halte mich also die meiste Zeit an die Routine. Mein Kaffee am Morgen ist der Auftakt für den gewohnten Ablauf. Vorhang auf und das Spiel beginnt. Natürlich ist die Nacht noch nicht ganz vergessen. Die Träume hängen noch im Morgendunst. Den Schmuck lege ich noch nicht vor dem Kaffee an. Man weiß ja nie, wem mann so begegnet, wenn man alleine wohnt. Der Engel kam zum Glück zu einer christlicheren Stunde. Nach dem Kaffee kommt der erste Akt. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um ein Drama oder eine Komödie handelt. Die Tragödie ziehe ich lieber gar nicht in betracht, ich habe angst, dass es dann schlecht ausgehen könnte. Keine Sorge, ich werde jetzt nicht noch einmal alles erzählen. Ich wollte nur die Stimmung vergegenwärtigen, damit die Geschichte mit dem Engel nicht so in der Luft hängt. Es war also alles wie immer.

 

Ein ganz normaler Tag. Ich hatte keine Vision. Ich war nicht betrunken oder unter Medikamenteneinfluss. Ich rauche nicht. Ich bin in dieser Hinsicht sehr tugendhaft. Enthaltsam. Langweilig. Die Zeit vergeht mir. Im Flug gehe ich zum zweiten Akt über. Ich glaube das Ganze kam nur, weil ich die Wort suche nicht ernst genommen habe. Was ist schon ein Wort, wo es so viele auf der Welt gibt. Ich kenne nicht einmal alle in meiner Sprache, oder wissen Sie, was ein Lude ist? Ach ja? Na gut, ich gebe zu, ich habe es schon erwähnt, ich bin tugendhaft und nicht in diesem Milieu zuhause. Außerdem würde ich mich auch nicht verkaufen, für keinen Mann oder Dollar oder noch so viele Euro. Wenn ein Lude seine Mädels an den Mann bringt, liege ich längst anständig mit einem Buch im Bett. Anstand nehme ich dann, wenn überhaupt am Buchinhalt, den Einband halte ich sauber. Reinlichkeit ist mir ein hohes Anliegen. Allein schon schmutzige Gedanken sind mir zuwider. Geld fasse ich gerne mit Handschuhen an. Man kommt ja nicht daran vorbei. Ich also keinen schmutzigen Gedanken fassend, mit den Kuchenüberresten beschäftigt, spüre dieses Frösteln in der Wirbelsäule und denke ganz unschuldig an den Wintereinbruch oder die ersten Regentropfen. Die Natur verkörpert für mich die Unschuld. Das ist heute sehr schwer zu vermitteln mit allen radioaktiven Strahlen und dem Elektrosmog, den man nicht sieht. Da denken doch die Angehörigen der Krebskranken zuallererst an die böse Natur, die das Übel verursacht. Ich kämpfe also auch auf dieser Ebene für die Reinheit. Das Leben ist ein ständiger Kampf. Da ich von Natur aus überwiegend friedlich und weiblich bin, ist das nicht einfach, es mit dem Leben auf sich zu nehmen. Leider ist das nicht mein kleinstes Problem. Da ist dann noch die Sehnsucht nach dem Tod. Die habe ich seit der Psychoanalyse. Die hat mir auch noch die Kastrationsangst eingebracht, aber die hat nicht lange angehalten. Ich habe sie dann auch nicht aufgehalten. Sie hatte es eilig. Offensichtlich wurde sie von einigen Therapeuten dringend erwartet und gebraucht. Da ich eh nicht viel mit ihr anfangen konnte, habe ich sie ziehen lassen. Loslassen soll ja auch eine Tugend sein. Nur nicht, wenn es sich um Winde aus den Gedärmen handelt. Die Tugend ist nämlich selbst nicht rein. Deshalb halte ich mich mehr an die Natur. Meine vorzüglichsten Eigenschaften habe ich von ihr. Ich liebe sie von Natur aus. Sie und sie, und immer wieder sie und mich und sie. Ich kann es nicht verhindern. Selten, aber beharrlich, taucht sie auf. Sie ist da. Sie und die Liebe. Ein großes Wort, gestorben mit dem Subjekt und den großen Erzählungen. Ich bin sehr froh, dass mir die Postmoderne diese Erlösung gebracht hat. Ich habe sehr gelitten unter dem Subjekt, der Liebe und der Moderne. Endlich habe ich mit ihnen alles de konstruiert. Kein Stein ist mehr auf dem anderen. Nach dem Tod Gottes konnten auch alle anderen sterben. Beinahe wäre ich mitgegangen. Das war aber lange, bevor mir der Engel begegnet ist. Wenn ich nur wüsste, zu welcher Art Engel er gehört. Ich würde ihn zu gerne weiter als Schutzengel betrachten, aber ich habe langsam leise Zweifel. Ein Schutzengel kommt doch nicht wie der Regen von oben als Überraschung. Ein Schutzengel bleibt außerdem zur Begleitung und verschwindet nicht unversehens. Habe ich ihn vielleicht verschreckt? Ich bin manchmal ziemlich direkt. Ich wollte ihn bei seinem Namen nennen. Das hat ihm nicht gefallen. Da war ja auch Gott schon eigen mit. Er wollte seinen Namen genauso wenig weitergeben wie Rumpelstilzchen im Wald. Mein Engel hat also keinen Namen, weder für mich noch für andere und als ich ihm einen schenken wollte, da ist er richtig in Rage gekommen. Dabei dachte ich immer, Engel hätten per se ein ausgeglichenes Temperament. Jetzt ist er weg.

 

Seit mehr als zwei Tagen. Wie lang die Zeit sein kann. Unendlich. Ewigkeiten. Sogar im Plural. Das ist die Wiederauferstehung aller großen Erzählungen. Vergessen die Fröhliche Wissenschaft, vergessen der Holocaust, vergessen die Dekonstruktion der Geschlechter, vergessen der Abgang von Yves St Laurent. Die Welt ist wieder in Ordnung. Ich kann lieben! Von Natur aus. Sie. Das ist eine anstrengende Tätigkeit. Man sollte es nicht glauben. Hatte sie für ein Geschenk gehalten. So leicht lasse ich mich anlügen. Gutgläubigkeit ist eine weitere Tugend von mir. Ich werde sie mit meiner Natur überwinden müssen, wenn ich die Liebe nicht verlieren will. Sie wollte schon mit der Kastrationsangst weiterziehen, aber ich habe sie noch am Rockzipfel erwischt. Ich gebe nicht alles her. Auch wenn man die Liebe verschenken soll, muss man sie erst mal haben. Deshalb habe ich sie festgehalten, als sie gehen wollte. Ich finde es nebenbei bemerkt, auch nicht gerade die feine Art, einfach so verschwinden zu wollen. Ich finde Liebe und Kastrationsangst sollten getrennt sein. Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich sie nicht habe ziehen lassen. Wo kämen wir bloß hin, wenn sich die beiden verschwägern würden?

 

Den Schutzengel hätte ich nicht ziehen lassen sollen. Ich konnte es nicht verhindern. Er war einfach weg. Ohne Vorankündigung. Jetzt versuche ich die Begegnung zu erinnern. Sie hat ihre Spuren hinterlassen. So ein Ereignis kann man nicht einfach ausradieren. Da sind die Gefühle. Die lassen sich nicht leugnen wie die harten Tatsachen. Geschichte kann nicht zurückgedreht werden. Was geschehen ist, ist geschehen. Nichts daran zu rütteln. Ich schüttele mich und werfe die Erinnerung hinter mich. Da! Hat da nicht ein Zipfel vom Engel um die Ecke gelugt? Ich renne zur Kreuzung. Biege scharf rechts ab, vor mir der Stadtpark mit Herrchen, die ihre Hunde ausführen und Kindern, die spielen. Habe ich vielleicht diesen Hund gesehen oder den Rockzipfel jener Mutter erwischt. Eine Mutter könnte leicht einen Engel abgeben, wenn sie nicht so sehr mit der Kinderaufzucht beschäftigt wäre. Ich würde ihr gerne besondere Eigenschaften zu kommen lassen, was das ausgeglichene Temperament anbelangt, aber auch Schutz und Liebe. Sie würde einen guten Engel für mich abgeben, aber was ich hier im Park sehe, ist enttäuschend. Dabei bin ich schon mit einem offenen Blick gekommen. Ich wäre heute bereit, eine dieser Mütter für einen Engel zu halten, wenn es nur das geringste Anzeichen dafür gäbe. Vergeblich. Die Hunde mit ihren Herrchen geben auch nicht vielmehr her. Auch wenn sie zunächst vielversprechend erscheinen. Hat nicht schon Kundalara in der „Unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ die Liebe der Hundebesitzer konstatiert, so dass ich mich da in guter Gesellschaft fühlen könnte. Nur dass mir mein Engel überhaupt nichts Tierisches vermittelt hat. Er hatte auch nichts von einem liebevollen Hundebesitzer. Er war flüchtig. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich konnte ihn nicht greifen, nicht halten, nicht sprechen. Weg war er. Wenn ich ihn trotzdem hier erwähne, dann weil er einen Eindruck hinterlassen hat.

 

Die Begegnung ist nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich sehe ihn jetzt manchmal. Ein Körbchen Trauben von einer Freundin oder das Lächeln einer Passantin. Diese Begegnung mit meinem Engel hat die Farben neu gemischt. Jetzt sehe ich nicht nur gelb, rot oder blau. Ich mache gerne die Augen zu. Dann sehe ich das Kribbeln in der Wirbelsäule. Gefühle haben keine eigene Farbe. Sie sind durchsichtig wie mein Engel. Jetzt ist es raus. Mein Engel ist eine romantische Einbildung, eine echte Illusion, eine verkörperte Wunschvorstellung. Kindliches Verlangen. Ich sollte ihn bei der nächsten Begegnung doch ansprechen. Es ist immer gut, die Dinge anzusprechen. Ich werde ihm einen Namen geben und ihn nach dem Wort fragen. Vielleicht ist er überhaupt nur deshalb gekommen und ich habe es ihm nicht gegeben. Das Wort. Manche nehmen sich ja das Wort nicht selbst. Sie halten es für den guten Ton, dass mann es ihnen gibt. Was dann allerdings dabei raus kommt, kann mann vorher nie wissen. Wie hätte ich ihm aber das Wort geben können, das ich selbst nicht habe. Ein wirkliches Dilemma. Kein Wort. Kein Name. Kein Engel. Keine Begegnung. Keine Erlösung. Nur die vage Erinnerung. Ein erinnerter Engel. Ein zitiertes Wort. Ein erfundener Name. Ich werde ihm einen neutralen Namen geben müssen. Wie wäre es mit Claude? Oder Dominique? Engel haben kein Geschlecht. Ein doppeldeutiger Name wäre also nicht von ohne. Es wird schwer sein, einen passenden Namen für meinen Engel zu finden.

 

Mein Engel ist mit einem einfachen Wort nicht zu fassen. Er passt nicht in fertige Konzepte. Er läuft an den Rändern über. Ich werde es trotzdem versuchen. Wie könnte ich ihn sonst rufen? Ich werde nicht passiv dasitzen, bis er wiederkommt. Außerdem werde ich nicht ständig das männliche Personalpronomen „er“ benutzen, nur weil Engel nach der deutschen Grammatik männlich sind. Ich sollte mir ein Bild von ihm machen. Das wird genauso schwierig sein, wie einen Namen zu finden. Schließlich habe ich ihn nur im Nacken gespürt. Ich fange also der Einfachheit halber mit dem Namen an, dann kann ich ihn wenigstens rufen, wenn er nicht da ist. Diese Taufe ist entscheidend. Die Deutung könnte dann später mit dem Bild kommen. Das wird eine echte Herausforderung, ein Bild ohne Farben. Durchsichtig. Nein, es wird kein leerer Rahmen und auch kein Loch im Bild. Durchsichtig heißt, dass der Platzhalter einen Blick eröffnet. Aber das mit dem Bild scheint mir keine so gute Idee. Ich könnte meinen Engel auf diese Weise wohl festhalten, ich hätte ihn für immer und ewig, aber wie könnte er mir beistehen?

 

Nein, es muss eine andere Lösung geben...

 

 

 

Rose Killinger, Paulhan, Frankreich

Publié dans Fragment

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